Dienstag, 25. September 2012

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

Ich sitze gegen dreiundzwanzig Uhr in einem chinesischen Imbiss. Draussen regnet es und ich habe schon einen Liter Bier getrunken, dafür aber noch nichts gegessen. Nach den Schrimps mit Curryreis dann Diskussionen über die Arbeit. Die Hälfte meiner Begleiter sind Ärzte, die andere Hälfte Ingenieure. Es sollte mir also herzlich egal sein. Ich sage wenig, doch meine Ablehnung ist eindeutig. Wir rennen durch den Regen, alle wohnen in der gleichen Richtung. Küsschen links, Küsschen rechts, es war wirklich sehr lustig, das machen wir bald wieder. Ich komme daheim an und kotze. Sicher weniger wegen der Unterhaltung als wegen der Kombination aus Bier und China-Schrimps. Und doch: Hätte besser laufen können heute Abend, Essen und Gesellschaft. Zwei Tage zuvor: Ich komme an auf dem Flughafen. Wenige Stunden zuvor saß ich noch mit den Füßen im Wasser am Bodensee. Ich hatte das alles vergessen, all die Kaukasier, die Stille, die Sauberkeit und grenzenlose Perfektion da unten im Nimmerland. Ich war nie zu Hause dort. Auf dem Flughafen bin ich wieder die einzige Kaukasierin, zudem die einzige Frau, die ihre Haare zeigt. Im Bus frage ich nach dem bevorstehenden Kipur. Ich ernte nur einen erschrockenen Blick und ein leises "Darüber sprechen wir zu Hause." Natürlich, das ist gefährlich in der Öffentlichkeit, meine Schuld. Angekommen an der U-Bahn-Station: Laut, dreckig, voll, verhüllte Frauen und bärtige Männer. Wie immer. Nach dem Bodensee frage ich mich dennoch eine Sekunde lang, ob ich möchte, dass meine Kinder so aufwachsen. "Sie haben keine Chance. Oder denkst du, die Schweiz bedeutet Normalität?" Natürlich nicht. Meine Arbeit gefällt mir auch nach sechs Monaten wirklich gut. Spaß ist nicht das richtige Wort, denn im Normalfall gehe ich mit roten Wangen und etwas Kopfschmerzen nach Hause. Dennoch gibt mir die Arbeit eine Bestätigung, die ich bis dahin nicht kannte. Ich bin sehr viel ausgeglichener, zufriedener mit meinem Alltag, wohl auch weil ich sehr viel weniger Zeit habe, an irgendetwas anderes zu denken. Während der Diskussion über Arbeit und während all der ähnlichen Diskussionen bei einem Feierabendbier denke ich dann aber, dass ich meine Arbeit nicht mögen sollte. Das sind die kurzen Momente in denen der Gedanke an Aufgeben, zurück nach Leipzig gehen und im Museum arbeiten wieder aufkommt. Nicht lange, weil ich ihn nicht lang ernst nehmen kann. Aber er kommt. In den Momenten, in denen ich so scheiße einsam bin, in denen mir so brutal klar gemacht wird, dass ich in dieser Stadt keinen einzigen Freund habe. Auch in der anderen nicht. Wenn mir wieder einfällt, dass mich hier ja keiner kennt, obwohl wir meistens die Wochenenden gemeinsam verbringen. Wenn einer aus der Gruppe wüsste, wo ich herkomme, was ich in meinem Leben gemacht habe und, was im März auf meinem Abschlusszeugnis stehen wird, würden sie mich mit anderen Augen sehen. Ich bin schließlich eine von denen, über die sie nachts im Chinaimbiss sprechen. Entwder würden wir dann nie wieder über Arbeit sprechen oder wir würden uns einfach seltener sehen. Eine Freundschaft wird aber ohnehin nie entstehen. Nun könnte man meinen, dass ich selbst Schuld bin, mich an den freien Wochenenden nur mit Ärzten und Ingenieuren zu umgeben. Menschen, für die Geld beinahe keine Rolle spielt und, die sich das Studieren an einer Nicht-Elite-Universität nicht vorstellen möchten. Es ist nun aber so, dass ich mit einem Trenchcoat bekleidet und einem i-Phone in der Hand, als Werksstudentin für einen Konsumgüterkonzern, bei potenziellen ehemaligen Mitstudenten nicht mehr allzu gern gesehen werde. Sie mir vielleicht auch etwas zu fremd geworden sind in den letzten Monaten. Ich habe mit der Bewerbung für ein Praktikum im letzten Jahr eine Entscheidung getroffen. Und da hätten wir dann das Dilemma: Gibt es denn ein richtiges Leben im falschen? Ich möchte Adorno widersprechen und händeringend, flehend und bettelnd dafür plädieren. Denn er hat die Alternative vergessen. Wenn die Suche nach Glück immer nur wieder in die Kindheit zurück führt, dann sieht es ziemlich finster aus. Das Glück aus Kindertagen bekommen wir nicht mehr zurück; wir müssen ein Neues suchen und müssen mit geballter Faust daran glauben, es zu finden. Es wäre so furchtbar ungerecht, damit zu scheitern. Nicht wegen irgendwelcher Vergleiche, die mit Ignoranz und Unwissenheit arbeiten, nicht wegen der Wertekanones, die auf dem Prinzip Teilhabe durch Leistung basieren, nicht aus dem Glauben an die reinen Kinderaugen heraus. Aus reinem Pragmatismus.

Dienstag, 26. Juni 2012

Reise in die Vergangenheit

Es ist wie immer, irgendwie. Die gleiche Regionalbahn, über eine Stunde durch den Wald. Die gleichen Jugendlichen aus der Kleinstadt. Ich trage einen Trenchcoat und lese Zeitung auf meinem i-Phone. Das doch irgendwie neu. Keine Gedanken an zu schreibende Hausarbeiten, dafür an die Marktanalyse, die ich nicht mehr beenden konnte, da ich den Zug kriegen musste. Angekommen ist der erste Blick trostlos wie immer. Ich laufe zur Bushaltestelle: 30 Minuten. Dann würde ich das grandiose Essen verpassen. Also ein Taxi. Auch das ist neu. Angekommen auf dem Berg kommt es dann. Ein komisches Gefühl, irgendwie bekannt, irgendwie unangenehm. Trist auch. Alles wirkt leer. Ich komme an, die selbe Frau am Empfang, die selbe Prozedur. Neu: Ich habe Glück und bekomme ein Einzelzimmer. Dann direkt auf zum Abendessen. Man kennt sich nicht, aber irgendwie doch. Wir sitzen alle im selben Bott, zumindest ein bisschen. Auch die Vorstellungsrunde ist doch jedes Mal gleich. Die Abendgestaltung mit Bier und Salzstangen in Ledersesseln sollte auch vertraut sein. Nett sind die Leute. Aber das unangenehme Gefühl ist noch da, wird mehr und mehr. Ich lache über alberne Geschichten, verliere beim Kickern und bin doch nicht richtig da. Irgendwann nachts in meinem Einzelzimmer. Das ist neu: Ich kann hier nicht schlafen. Auch die folgende Nacht nicht. Zurück nimmt mich ein sehr netter syrischer Arzt mit bis nach Köln. Wir diskutieren Gemeinschaft und Gesellschaft. Danach 20 Minuten allein im Zug. Wie? Ich bin da? Hier lebe ich also? Direkt in die U-Bahn, aussteigen, zur Bushaltestelle, 10 Minuten Fahrt, 5 Minuten Fußweg. Ankommen in meinem 8qm-Zimmer. Die amerikanische und die französische Mitbewohnerin in der Küche, nächste Woche kommt noch eine Engländerin. Es ist doch nicht gleich. Reise in ein anderes Leben. Es sollte längst vorbei sein? Und ist doch erst ein Jahr her. Soweit weg. Doch noch nicht ganz angekommen. Doch noch nicht ganz erwachsen.

Freitag, 17. Februar 2012

Erinnerungen auspacken, sortieren, zurecht rücken

Angekommen in Leben Nummer sieben. Wohngemeinschaft Nummer acht, Stadt Nummer sechs. In allem anderen wieder bei null. Dachte ich, aber nicht ganz.
Es ist zu gleichen Teilen beruhigend wie beängstigend, dass mit jedem neuen Leben, jedem neuen Umfeld, jeder neuen Aufgabe und jedem neuen Sinn sich nicht doch alle Muster neu bilden. So ist der Beginn in einer Stadt, die mir nicht gleichgültiger sein könnte, doch überraschend alltäglich, routiniert. Und auf diese Weise erstaunlich gut, da nicht weltbewegend.
Neue Mitbewohner, ein neuer Arbeitgeber, neue Kollegen und eine neue Aufgabe. Dazu: ein neuer Sinn, zum Geldverdienen und zum Leben (die Trennung wird momentan als höchstes Glück empfunden.)Dabei das höhere Ziel doch scheinbar erhalten? Vielleicht auch erst als solches erkannt. Zudem etwas modifiziert, ein Stück weit ausdifferenziert, gleichsam erstmalig dem Rationalitätstest unterzogen.

Und doch: Die Mitarbeiterin aus dem Fitnessstudio kommt aus einem Dorf in der Nähe und kann nicht begreifen, dass auf meinem Personalausweis, meinem Studentenausweis und meinem Arbeitsvertrag drei verschiedene Städte stehen. "Warum musstest du das machen?" Ein Zwang also. Ein Stück weit ein Schubser zurück in Richtung Realität: So leben Menschen. Es muss furchtbar sein, auch noch nach sieben Städten in viereinhalb Ländern.

Das neue Arbeitsumfeld macht es leicht: Keiner hat wirklich lang an einem Ort gelebt. Als Deutsche, die in Deutschland aufgewachsen ist, bin ich Exot. Auch das neue Zuhause: fünf Menschen aus fünf Ländern. Wenn das der Alltag bleiben kann, wird es beruhigen.

Was nicht beruhigt: Das dumpfe Gefühl im Magen, doch Zustände, Umgebungen, Menschen immer und immer zurückgelassen zu haben und es immer weiter zu tun. Oder das gegenseitige Zurücklassen beobachtet zu haben. Heute SMS des geliebten Londoner Mitbewohners, der seit einem halben Jahr wieder in Mexiko lebt. Ich sitze in der Bahn und lache. Um mich dann zu fragen, ob wir uns wieder sehen werden.

Optimistisch: Spielen Orte noch eine Rolle? Nach zwei Wochen in Europa, hatte ich Freunde in fünf Städten besucht. Dieses kommende Wochenende Paris, das nächste Mailand, darauf Brüssel. Der topographical turn kommt in meinem Kopf an.

Wenn ich groß bin, möchte ich tagsüber Waschmittel verkaufen und nachts eine Doktorarbeit in spatialer Theorie schreiben.

Samstag, 31. Dezember 2011

Meister des Abschieds

Wir sind sieben. Zwei Männer, fünf Frauen. Aus Indien, Singapur, Russland, China, Deutschland. Wir haben uns vor einer halben Stunde kennen gelernt. Wir sprechen vier verschiedene Sprachen am Tisch; keiner versteht alles. Gemeinsam haben wir auf allen Kontinenten der Erde gelebt. Dreißig Minuten. Und doch: wahrscheinlich sind wir spätestens nächste Woche Freunde. Nach unserer Definition. Die kein Stück schlechter ist als die der anderen. Bereits jetzt reichen Blicke, ein Nicken, man versteht sich. Es ist klar: das muss funktionieren.

Wir teilen ein Geheimnis – wir beherrschen den Abschied. Wie den Neuanfang. Wir wissen, dass „Unverbindlichkeit“ und „Freundschaft“, dass „Beziehung“ und „Einsamkeit“ zusammen gehören. Dass wir alles aufsaugen und nichts behalten. Dass Freude und Trauer manchmal das Gleiche sind. Dass man einfach gehen kann, einfach weiter, mit einem Lächeln im Gesicht. Erinnerungen verblassen, vermischen sich.

Dass wir immer aufgeben, solange aufgeben, bis es uns nichts mehr bedeutet. Für das Gute, Schöne, Neue in der Welt. Für die Erfahrungen, für das Reifen. Wie weit wollen wir reifen? Bis nach dem Zynismus? Oder bis zur Glückseligkeit? Oder bis wir herausfinden, dass beides austauschbar ist? Wie viel können wir von dem aufgeben, das uns umgibt, um noch selbst etwas von uns zu behalten? Reden wir uns schon ein, dass wir uns noch weiterentwickeln, obwohl wir doch längst dicht gemacht haben? Mit einem Kopfschütteln abgewunken. „Nein, das kenne ich schon. Been there, done that.“

Oder ist es noch all das? All das Gute, Schöne, Neue aus der Anfangszeit? Unsere Gruppe ist spannender, interessanter als die der anderen Tische. Man dreht sich nach uns um. Jeder der sieben bringt die Unterhaltung voran. Wenn nichts gesagt wird, ist man sich einig. Weiß um das Wissen des anderen. Verpassen die anderen etwas? Und vor allem: Können wir die Entscheidung auch noch treffen? Ist es schon zu spät? Wann ist es zu spät? Sind wir irgendwann Aussätzige, zu spät dran fürs Spießbürgertum, zu anders, zu schlecht anzupassen an Stabilität, Normalität, Banalität?

Nach spätestens sechs Monaten an einem Ort wird mir langweilig. San Francisco, eine der wohl buntesten und spannendsten Städte der Welt. Und mir wird bald langweilig. Ja, ich bin ein verwöhntes Balg. Schlimmer noch: Ich habe mich an das Aufgeben und Neuanfangen gewöhnt. Das ist meine, unsere Stabilität. An diesem Tisch, im italienisch-türkisch-amerikanischen Café auf der Bancroft. Bin ich noch in der Lage, das mit einem anderen Menschen zu teilen?

Bis jetzt: ein riesiges Geschenk. Ich bin dankbar, jeden Tag. Ohne Zynismus. Nichts sonst. Ich möchte dieses Leben und kann mir kein anderes vorstellen.

Aber wann wird dieses Dasein peinlich und traurig? Wann passe ich nicht mehr hinein, in die Gruppe Spießer, in die ich am Ende der Reise doch aufgenommen werden möchte? Mehr noch: Wann werden die Beziehungen, die Freundschaften, die Liebesbeziehungen, zu austauschbaren Alltäglichkeiten? Wann hat man zu viel davon aufgegeben, liegen gelassen, weg geworfen, weil man neue gefunden hat? Bemerkt man noch den Unterschied? Den Zauber der wirklichen, echten Freundschaft aus Kindertagen, des ersten aufrichtigen „Ich liebe dich“, der ersten Urlaubskarte für die beste Freundin? Keiner dieser Menschen, meiner ersten und aufrichtigen Beziehungen, war austauschbar. Und doch sind viele liegen geblieben, irgendwo auf dem Weg, meinem Weg. Dem egoistischen Weg?
Habe ich die Entscheidung überhaupt bewusst getroffen? Habe ich jemals eine Entscheidung getroffen?
Es fühlt sich doch wie Betrug an, am Strand mit Rotwein „Ich bin so dankbar, dass ich dich kennen gelernt habe.“ Und dabei kennen wir uns doch erst Monate. Ist das Freundschaft? Vergleichbar mit der ersten, der mit der Urlaubskarte von der Ostsee? Werde ich die Freundin vergessen?
Ohne die Erfahrungen wäre man nicht der Mensch, der man ist, der man sogar sein möchte. Ist es wollenswert , kaltherzig zu sein?
Ich bin ohne Abschied von so vielen weg gegangen. In zwei Wochen werde ich es wieder tun. Am Ende vielleicht doch so viel Einsicht: Den Abschied, den würde ich gern nachholen. Bewusst. In dem Wissen, zu gehen, trotz Urlaubskarte. Trotz allem, was da war.

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Exit and Voice

Two immigrants from Germany meet for the first time after many years in New York. One asks the other: "Are you happy here?" Reply: "I am happy aber glücklich bin ich nicht."

Es ist 7.30 morgens. Das Tor quietscht etwas. Die Luft ist noch angenehm kalt und klar; es riecht nach frischem Gras; ein Mann verlässt den Vorgarten und geht mit seinem Hund spazieren. Auf dem Weg nach Hause sehe ich niemanden sonst; ich war lange nicht mehr so ruhig und ausgeglichen wie jetzt. In zweieinhalb Stunden beginnt die erste Vorlesung für heute.
Ruhig, leise, shhhh. Ich müsste dringend schlafen. Am Freitag, dann ist die Woche vorbei, ist alles abgegeben, ist das Interview vorüber. Und dann? Wann stelle ich mir die Frage? Und wann entscheide ich mich für die Antwort? Exit or Voice, you have a choice klingt es noch nach. Dieses Mal nicht, denke ich auf dem Nachhauseweg.
Meine Freundin fragt: "Are you happy in California?" "I cannot remember having been so happy in my life." Das letzte Mal so viel gelacht, so viel in die Sonne geschaut, so viel getanzt habe ich in London. An einem Sonntag Morgen um 5.30 werde ich im Taxi von einer anderen Freundin dennoch hören: "Tu es trop triste, Maria."
In einem Land, in dem das Glück die einzige akzeptierte Lebensform darstellt, ist es schwer, zwischen den Stühlen zu stehen. Ich war nicht glücklich mit dem Leben, das der westliche Mensch mit allen Mitteln zu erhalten sucht. Noch nicht, sage ich mir und will es doch nicht recht glauben. And one must be happy, sagt Albert Hirschman.

Das geht am besten durch Weglaufen. Oder präziser: Verleugnung, Flucht, Sündenbock finden und Zynismus. Zusammen: Verweigerung. Ich habe das Gesamtpaket in den letzten Jahren perfektioniert und beherrsche es meisterhaft: "Es ist kein Problem. Es könnte ein Problem sein, aber nicht meines. Ich bin sicher, es ist ein Problem, aber ich bin nicht schuld. Ich erkenne das Problem klar und deutlich aber ich kann es ja doch nicht ändern." Was, wenn der Punkt kommt, an dem ich nicht mehr davonlaufen kann? Bleibe ich dann bei der Verleugnung und werde trotzdem glücklich? As one must be happy. Oder entscheide ich mich dann für Zufriedenheit? Die Zufriedenen scheinen gut zurecht zu kommen. Wenn das Weglaufen nur nicht immer wirklich so glücklich machen würde. Für den kurzen Moment. In dem man von der Insel auf die erleuchtete Stadt schaut. In dem man tatsächlich angesprochen wird mit den Worten: "I'm sorry to ask you, but do you have any pills? Really, no? Sorry, you guys just looked so happy, I thought..." Ist es gut, immer dann glücklich zu sein, wenn man die Zerbrechlichkeit des Moments beinahe riechen kann? Wenn einem zehn Gründe einfallen, wieso das hier nicht für immer sein kann und nicht für immer sein soll?
Und was, wenn das alles ganz furchtbar falsch war und die Angst richtig ist? Was dann? Voice over Exit? Die Entscheidung käme zu spät. Vor den Konsequenzen könnte ich aber in jedem Fall erst mal weglaufen. Morgen Nacht das Interview; ich hoffe, die wollen mich. Das wäre neuer Rekord: ohne Ankommen direkt weiter weglaufen, in die nächste Stadt, in das nächste Leben, nicht anhalten, nicht nachdenken.
Ich sollte dringend schlafen.

Samstag, 27. August 2011

Bildung ist nicht alles.

Kann sie zumindest nicht sein. 40 000 Dollar Studiengebühren pro Jahr, 1500 Dollar Miete pro Monat, 200 Dollar pro Kursbuch, exorbitante Preise für Essen und alles andere, was den menschlichen Körper am Leben erhält. Nach nur einer Woche inmitten der selbsternannten Bildungselite behaupte ich frech, dass es das einfach nicht wert sein KANN. Jede einzelne Vorlesung kostet jeden Studenten mehrere hundert Dollar. Keine davon kann soviel Geld wert sein, nicht jede davon wird überhaupt wirklich gut sein. Und keiner beschwert sich. Ich wundere mich, warum die Studenten hier das 40fache meiner Studiengebühren zahlen (die ich ja selbst nicht einmal zahle, da sie mir erlassen werden) und die Kopien in der Bibliothek hier trotzdem noch dreimal soviel kosten. Wie das schlechte(!) Mittagessen acht Dollar kosten kann und trotzdem 30 000 Studenten lachend in überteuerter Merchandise-Klamotte ihrer Elite-Uni über den Campus stolzieren können. Ist jeder einzelne von denen reich? Das geht nicht bei der Dichte an überteuerten Super-Duper-Unis in diesem Land, denke ich. Heute morgen auf dem Weg zur Uni dann auch hinter mir: "For this year I still have the money. But for next year, I'll have to take a loan." Hm. Muss ein seltsamer Start ins Berufsleben sein mit gut 300 000 Dollar Schulden nach dem Masterabschluss. Aber wahrscheinlich sind das auch die Wenigsten. So wie die Masse an Pennern in San Francisco nichts zu fressen hat, fährt ein guter Teil der Studenten in Berkeley mit dem BMW Cabrio zur Uni.
Nach diesen wenigen Tagen schon finde ich das tatsächlich einfach nur schlecht und falsch. Natürlich: Bildung wird in den USA gewertschätzt, anders als in Europa. Aber wenn das der Preis dafür ist - nämlich 40 000 Dollar pro Jahr - dann sollten die Europäer vielleicht doch stolz sein auf ihre miesen PISA-Ergebnisse. Auch wenn Deutschland in verschiedenen Studien als eines der ungerechtesten Länder der Welt erscheint - das ist alles nichts gegen die Ungerechtigkeit, die dort herrscht, wo allein die Zahlungskräftigkeit über den gesellschaftlichen Erfolg entscheidet. Denn der Elite-Abschluss ist ja vor allem mit Prestige und Ansehen verbunden. Vielleicht sollte jeder in seinem Lebenslauf unter dem Studienabschluss angeben, wie er sein Studium finanziert hat.

Montag, 25. Juli 2011

Vom Erwachsen werden

Vor acht Tagen stand ich nach einer Stunde Schlaf morgens um 4.45 auf, um sechseinhalb Stunden mit der Regionalbahn durch Deutschland zu fahren. Mein Begleiter war ein 19-jähriger Junge, mit langen, wuscheligen Haaren, einem Strohhut auf dem Kopf und einem Zelt auf dem Rücken. Gerade Abitur gemacht, auf dem Sprung für ein soziales Jahr nach Nicaragua. Auf der Fahrt dösten wir dann so vor uns hin, hörten Musik, er erzählte von seinen Plänen.
Seltsam, wie sich alles so verschiebt. Am Tag zuvor hatte ich meine letzte Prüfung geschrieben, Tag- und Nachtschichten hintereinander, nichts anderes zählt. Und von einer Sekunde zur nächsten ist da wieder das alte vertraute Gefühl, mindestens zwanzig Jahre alt: viel zu müde, um sich über irgendwas Sorgen zu machen, angesteckt vom Fernweh des anderen, glücklich weil man stundenlang mit dem Zug durch den Wald fährt. Kein Geld zu haben ist auf einmal wieder gut, gehört irgendwie dazu zum Jungsein und zum Studieren. Bilder im Kopf von Zugfahrten, die man nie vergessen wird: Polen, Rumänien, Tschechien, Schottland, Belgien. Wie gut war das alles. Das Gekichere, die zerwuschelten Haare, der Sand in den Augen, kluge Sätze, dann stundenlanger Blick auf das, was da vor einem liegt. Das konsequente Kaum-Erwarten-Können.

Und heute? Ist das immer noch alles wirklich gut. Aber nicht mehr gleich. Seltsam, wie sich alles so verschiebt. Heute freut man sich aufrichtig mit dem 19-jährigen, dem alles, aber auch wirklich alles jetzt gerade, genau in diesem Moment, bevorsteht. Dem gerade nichts weniger als die ganze Welt gehört.
Das Gefühl von Befreiung hat aber heute der Unsicherheit Platz gemacht. Man denkt mehr in Zeit- als in Erfahrungsräumen, gibt auch zu, Entscheidungen zu treffen, von denen man schon zuvor wusste, dass die Konsequenzen keinen Spaß bringen würden und kein Stück Selbstfindungspotenzial aufweisen könnten. Solange die Entscheidung ein Schritt in Richtung Sicherheit, Vernunft, Erwachsensein bedeutet hat. Neu ist, dass sich solche Entscheidungen heute ausschließlich und ohne wenn und aber gut anfühlen. Wie ein Stück Gewissheit, dass man tatsächlich erwachsen wird, von ganz allein, aus freien Stücken. Das beruhigt ungemein.

Wirklich seltsam, wie sich das alles bereits verschoben hat! Die Präferenzliste gefühlt einmal herum gedreht. Das, was einem früher Angst gemacht hat, was einen vielleicht sogar angeekelt hat, das ist heute das Fundament von allem, was da ist. Feste Beziehung, Berufsbezeichung ohne "freischaffend", das "Zumindest-rette-ich-damit-die-Welt-auch-wenn-ich-kein-Geld-dabei-verdiene" mit einem Kopfschütteln begraben. Und wieder: das fühlt sich ungemein gut an. Soll genau so und nicht anders sein.

Heute Mittag dann wieder Ankunft im Mösle. Es fühlt sich jetzt schon fremd an, falsch und nicht wie etwas, das noch zu mir gehören sollte. Studenten gehen mir jetzt schon auf die Nerven. Das in-den-Tag-hinein-leben hatte ich noch nie verstanden, heute regt es mich auf. Jahrelanges Sitzen auf der Wiese vorm Haus, mit der immer gleichen Musik, immer ohne klares Ziel. Die Gespräche dumm und leer, selbst der Duktus macht mich aggressiv. Die verdreckte Küche, das versiffte Bad mit den dämlichen Sprüchen an den Wänden. Dazu überall dieser Bass. Und wie mir das alles mal Spaß gemacht hat, wie stolz ich war, dass es mal mir gehört hat. Dass ich auch eine von denen war,vom Pack. Heute frage ich mich, wie es zum Beispiel sein würde, noch mal in die alte Wohnung in London zu ziehen. Mit dem Schimmel überall, der verrotteten Küche, mit dem Würge-Reflex-auslösenden-Gestank, im Winter ohne Heizung, fließend Wasser nur durchgängig im Fitnessstudio. Mit dem wenigen Geld gut gelebt. Überall zu Fuß hin gelaufen, alles geklaut gekauft, in einer Parallelwelt gelebt. Das war die schönste Zeit meines Lebens. Und war genau, exakt und auf die Sekunde damals so richtig, vor drei Jahren.
So seltsam, wie sich das alles so verschiebt. Letzte Woche Telefonat mit der alten Mitbewohnerin aus Dresden. Vor gut zwei Jahren saß man noch rülpsend zusammen in Unterwäsche am Frühstückstisch. Und heute? Studium beendet, fertige Lehrerin, verheiratet, ein Kind. Und will nie nie wieder zum Studentenpack gehören. Verdient jetzt Geld. Ist erwachsen. Am Ende lege ich auf und wünsche mir genau das. Möglichst bald.