Ich bin ein Kopfmensch. Das denke ich wirklich. Alle großen Entscheidungen in meinem Leben habe ich bisher mit dem Hirn getroffen. Ich denke es hat einfach viel mehr Kompetenzen als das schnöde Herz oder der stark überbewertete Bauch.
Jedes Mal, wenn ich letzteren Organen Entscheidungsgewalt zuwies, ging das daneben. Die Konsequenzen irrationaler Gefühls- und Gemütsduselei habe ich tatsächlich meistens bereut. Und doch ist man ohne Herz kein ganzer Mensch, muss einfach auch Dinge bereuen. Das stärkt den Charakter, bringt Lebenserfahrung und Weisheit.
Und Narben. Die können geradezu heldenhaft wirken; man kann sie stolz präsentieren und damit zeigen, was man schon alles so durch hat im eigenen Leben. Sie können aber auch furchtbar groß und hässlich sein. Und vielleicht nie richtig verheilen. Widerwärtige Charaktereigenschaften überhaupt erst entstehen lassen. Missgunst, Eifersucht, Intoleranz und den guten alten Pessimismus – die können alle mit einer einzigen großen Narbe daherkommen. Ist es dann trotzdem gut, die Erfahrung gemacht zu haben? Was wenn der Besitz der Narbe so abbrüht, dass ein Stück vom Selbst dem hässlichen Mal Platz macht? Und das Hirn dann keinen Einfluss mehr hat, nicht mehr mitmischen kann bei den großen Entscheidungen.
Was ist überhaupt eine gute Glücklich-und-Zufrieden-Quote für ein Menschenleben? Wie viel Schmerz und Leid wird überhaupt erst einmal benötigt, um das Glück zu erkennen? Und dann festzuhalten. Und welche Narben sind schlimmer: die selbst verschuldeten oder die, die man so gern Schicksal nennt?
Weder in der Situation noch im Rückblick kann man das richtige Maß erkennen: Während man den Kopf noch gegen die Wand schlägt und vor Verzweiflung oder Trauer schreit, erscheint das Maß an Leid nicht zu halten; zu viel für ein Menschenleben. Jahre später verklärt man oft; sieht den Abgrund nicht mehr, an dem man stand. „Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“ Ein Stückchen zumindest. Ein mindestens genauso großes Stück von diesem Binsenweisheitskuchen bringt aber emotionale Kälte und die Unfähigkeit, anderen Menschen zu vertrauen.
Den lieben guten Peter Handke lobe ich mir genau deshalb so sehr: Als das Kind Kind war, da wusste es nämlich von all dieser Scheiße noch nichts. Hat gelacht und geschrieen ohne je die Konsequenzen dafür tragen zu müssen. Wenn ich heute Kind bin – und ich gebe mir die größte Mühe, ein regelmäßiges Kindsein fest in meinen Alltag zu integrieren – dann bekomme ich doch in fast genauso regelmäßigen Abständen die Quittung dafür.
Wenn ich jetzt in den Spiegel schaue, dann klafft da gerade noch eine ziemlich miese Wunde, ganz frisch. Man kann bis zum Knochen schauen, geradezu faszinierend. Ich bin gespannt: das wird eine ordentliche Narbe ergeben. So eine, die ich mein ganzes Leben mit mir rumtragen kann. Die ich aber keinem zeigen werde. Mir nur ab und an im Spiegel anschauen werde, um mich an die einzige große Herz-Bauch-Scheiße-Entscheidung meines jungen Lebens zu erinnern. Ich möchte dann verschmitzt grinsen und mir sagen: das hat sich gelohnt, ich hab gelebt und ich hab es geliebt, was mich da so zugerichtet hat. Ich will mit 85 noch sagen können, dass ich es nicht mal bereue. Es immer wieder tun würde. Es trotz der Konsequenzen richtig und gut war. Für mich in der Phase meines Lebens etwas gebracht hat. Vielleicht gibt es keine allgemeine Glück-Unglück-Quote für jeden. Das Maß an Glück, was diesem Krater an meinem Körper voraus gegangen ist, war jedenfalls so groß, dass es Unglück und Leid ein ganzes Stück weit aufwiegen kann.
Vielleicht sind dafür auch die Narben gut: dass man sich an das erinnert, was da passiert ist. Sie aber nicht als Mahnmal für Fehlverhalten oder Dummheit versteht, sondern als kleine Meilensteine, manchmal auch Hinweisschilder, für diesen langen Weg, den man über die Jahre so geht. Ich möchte meinen Knochensplitterblick und das spätere Mal nie vergessen. Ich möchte aber auch immer sagen können: ich bereue vielleicht manche Sicht auf die Dinge, manche Herangehensweise an das Neue, aber die Narbe, die am Ende bei rum kam, die würde ich mir genauso noch mal holen. Den Kopf noch mal mit einhundert Prozent gegen die Wand schlagen. Und den Schmerz danach wichtig finden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen