Mittwoch, 20. Oktober 2010

Große weiße Vögel

Sehe ich jeden Tag. Kaum zu fassen, was so ein Stück Beständigkeit doch machen kann, wenn man es lässt. Nach gut zwei Wochen süddeutscher Enklave bin ich geradezu überwältigt von soviel Normalität. Mit Ausnahme eines Abends, an dem sich das Bewusstsein für meine Begriffe etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte, ist jeder Tag gerade gut, ausgesprochen gut. Ist es sogar gut, bis nachts hunderte Seiten altdeutschen Rechtstexts aus dem 17. Jahrhundert zu lesen, sich mit so perfiden Dingen wie Juristerei und Betriebswirtschaft auseinanderzusetzen. Lässt auch nach acht Stunden Seminaren der gescheite Herr Luhmann mir noch die Augen glitzern.
Innerhalb weniger Tage habe ich Pisse an Häuserwänden und Straßenlärm-Dauerbeschallung gegen Wald und Wiese eingetauscht, Fritten vom Marokkaner um die Ecke gegen den Bioladen am See, Saufen und Kiffen gegen Lesen Lesen Lesen. Ein ganzer Batzen Gegensätze, zwei Leben, zwei Alltage.
Herrlich: alles hat seine Zeit, tatsächlich. Da war die Stadt, die wirklich nie schlief, die mir richtige eigentliche Kultur gegen den Schädel geschleudert hat, London mein Herz. Einverleibt, Einverschrieben, Vergeistigt. Dann dieser Zirkus, dieses stinkende Affenhaus, in dem jeder Tag ein Stückchen Kindheit mitgebracht hat. Gleichzeitig einen ganzen Dachboden voll mit Kisten: Reflexion, Bewältigung, Restaurierung. Am Schluss wirkliche Freunde fürs Leben, die dritte Familie. Und nun? Der Wahnsinn der letzten sechs Monate kann sacken, das neue Ziel aber schon klar vor Augen.
Die einzige Beständigkeit: 24 Stunden können unglaublich viel ausmachen, sollten nie ungenutzt bleiben, werden ausgekratzt bis zum letzten Rest.
Abschnitte, Phasen, Momente, einer nach dem anderen. Dieser hier nun beinahe lang, intensiv. In neun Monaten packe ich erst wieder die Koffer. Hiersein ist gerade schön, tatsächlich hinreichend und gut.

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