Sonntag, 16. Mai 2010

Diskurs 1: Heimat

Als ich im April auf dem Weg nach Hohenhausen im Zug von Leipzig nach Frankfurt saß, wurde ich Zeuge einer kuriosen Unterhaltung. Ein älteres Ehepaar, beide weit über 80, sprach über das gemeinsame Leben: die Kinder, die Krankheiten, das lange Leben, das bereits hinter ihnen lag. Man möchte meinen, im eigenen, kurzen Leben bereits tausender solcher Gespräche teilhaftig geworden zu sein. Ganz recht, doch dieses eine Mal hörte ich die ganzen vier Stunden gespannt zu. Der ältere Herr stammte aus Dresden, das musste er gar nicht sagen, ein Satz reichte zur geographischen Verortung. Seine Gattin dagegen war gebürtige Kölnerin, erwähnte dies auch stolz in sehr regelmäßigen Abständen. Beide sprachen so stark ausgeprägten Dialekt, dass ich Mühe und Not hatte, sie zu verstehen. Sie schienen seit den 50er Jahren in Köln zu leben, der Mann sprach aber noch derberes Dresdnerisch als ich es während meiner drei Jahre in der Stadt je gehört hatte. Die Tochter der beiden lebte mit Familie in Köln, der Sohn mit Frau und Kindern in Dresden. Seit der Wende pendelte das Rentnerpaar nun beständig zwischen beiden Städten hin und her, verfügte scheinbar ferner bei beiden Kindern über eigene Räumlichkeiten, war an beiden Orten zu Hause. Herrlich die Wortwahl der beiden: Sie sprachen beständig von "zu Hause", "drüben" und "bei uns", meinten aber genauso beständig niemals die gleichen Orte. Dresden und Köln, Ost- und Westdeutschland.

Auf dieser Zugfahrt stattete mir dann also ein alter Bekannter - ein recht zermürbter und verlebter Zeitgenosse - einen Besuch ab. Er ist seitdem bei mir und wird mich, glaube ich, so schnell auch nicht wieder verlassen. Kennen gelernt haben wir uns im ersten Semester in Dresden, genauer in meiner ersten Studienwoche: Ich saß mit einer Kommilitonin etwas angetrunken nachts in der Straßenbahn. Sie berichtete von ihrem Aufwachsen mit zwei Sprachen, zwei Kulturen, zwei Lebenswelten. Und machte mir sofort klar, dass ich als Deutsche ohne Migrationshintergrund, ohne doppelte Staatsürgerschaft, niemals verstehen könnte, welche Bedeutung das Wort Heimat wirklich habe. Von da an habe ich meine nervenaufreibende, zermürbende, unangenehme Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff durch mein Studium geschleift und gezerrt. Meine Bekanntschaft musste überallhin mit: in Vorlesungssäle und Cafeterien, zu Podiumsdiskussionen und studentischen Besäufnissen, vorbei an Erasmus-Parties (an denen wir beide jedoch nie teilnahmen) und durch alle Dreckslöcher, Pfützen und Unwetter hindurch. Das hat ihn abgehärtet, will ich meinen. Er hat Ecken und Kanten, ein richtiges Profil bekommen. Er hat Erfahrungen gemacht und sich weiter entwickelt.

Während der Studienzeit kamen dann immer wieder Denkanstöße, Versuche einer Bestimmung, einer Eingrenzung des Heimatbegriffs. Ich selbst definierte den Begriff einer Lehrkraft gegenüber mal als Sozialisation in einem bestimmten Umfeld. Bullshit. Ist doch viel zu wenig.

Als mein Bekannter an diesem Nachmittag im Zug wieder vor mir stand, da war es wie mit 18 Jahren nachts in der Straßenbahn in einer neuen Stadt. Nach fast vier Jahren habe ich keinen leisen Schimmer, wie ich ihm die Sache mit der Heimat verklickern soll. Die letzten drei Wochen haben die Sache nicht wirklich besser gemacht: ich fühle mich sauwohl, bin tatsächlich ANGEKOMMEN. Springe hin und her zwischen den Welten; Welten, die ich selbst nicht definieren, nicht einmal greifen kann. Schreie nachts ohne Angst sechzehnjährige Jungs an, die mir die Tasche stehlen wollen und drohe, ihnen die Fresse zu polieren. Beruhigt und guten Gewissens schließe ich die Tür hinter mir und freue mich auf meine Besenkammer, mein 3qm Reich, das mehr mein Zuhause ist als die wunderschöne Altbauwohnung, in der ich zwei Jahre gelebt habe.

Parallelen zu Gefühlen, Eindrücken und Gedanken der Londonzeit sind auffallend stark. Die Erfahrungen generell gleichen sich, sind nach diesen kurzen drei Wochen vielleicht noch stärker, differenzierter und - falls möglich - zu Teilen noch positiver. Mitbewohner, die ich seit gerade einmal zwei Wochen kenne und mit denen ich - auf Spanisch und Französisch wohlgemerkt - offener und ehrlicher spreche als mit jeglichen Mitbewohnern der gesamten Studienzeit. Natürlich, ich bin nur für einen begrenzten Zeitraum hier, bin frei und ungebunden; that helps. Dennoch: das warme Gefühl im Magen ist authentisch, real, wirklich da. Gestern nacht bin ich um fünf Uhr morgens mit einer Mitbewohnerin und einer gerade gemachten Bekanntschaft ausgiebig lachend und mit tausenden verschiedensprachigen Phrasen im Kopf nach Hause getorkelt. Zuvor hatte ich sechs Stunden lang selbstverständlich Englisch, Spanisch, Französisch und tausende andere Sprachen, die ich nicht beherrsche und die vielleicht nicht existieren, gesprochen, in jedem Satz Hunderte Fehler gemacht und mich dennoch zu Hause gefühlt. Zu Hause ist nicht die Heimat. Aber ein Stück davon? Und was ist mit Glück, Zufriedenheit, Erfüllung? Das ist alles da, jetzt in diesem Moment. Drei Worte, die vor Pathetik tropfen; man sollte sie vermeiden, wenn sich andere finden lassen. Aber die finde ich nicht. Alles ist gut, alles sollte so und nicht anders sein, ich kann gleichzeitig sein, was ich bin und, was ich sein möchte. Ein Teil meiner neuen Definition von Heimat. Hm. Mein alter Bekannter ist nicht zufrieden, knirscht die Zähne, hatte sich mehr erhofft.

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